Die stärksten Menschen haben schwache Momente. Gerade die, die schlimmstes erlebt haben, können einerseits sehr stark sein, wenn sie es überstanden haben und andererseits leider, wie jeder andere auch noch schwache Momente haben. Die eigentliche Stärke liegt darin, da so schnell wie möglich wieder raus zukommen, die positive Seite zu betrachten und trotz allem das Beste daraus zu machen. Nur was gibt es schon für positive Seiten, wenn jemand sterben muss? Die Erlösung?
Zu Weihnachten 2012 bekam mein Opa die Diagnose Darmkrebs, die wir ehrlich gesagt alle nicht wirklich ernst nahmen, weil wir davon überzeugt waren, dass er sicher wieder gesund wird. Keiner konnte sich vorstellen, dass unser 68-jähriger Opa, mit dem wir seit unserer Kindheit im gleichen Haus wohnen und der teilweise wie unser Vater war, bald nicht mehr bei uns sein würde. Diese Woche bin ich eines besseren belehrt worden. Er lebt zwar noch, aber es ist kein schönes Leben mehr. Bis zu der Woche habe ich wirklich noch geglaubt, dass er wieder gesund wird, doch nachdem sich der Krebs leider ausgebreitet hat, trotz Chemotherapie, habe ich die Hoffnung aufgegeben und bin zur Zeit traurig und wütend. Dieser Körper hat schon eine Herz- und Darmoperation überstanden, einen Rippenbruch, durch den der Leberkrebs entdeckt wurde und vier weitere Krebsarten, wie Dünndarm, Dickdarm, Zwölffingerdarm und Lymphe. Nur wie lange steht er das jetzt noch durch und unter welchen Bedingungen? Spaß macht das Leben sicher keinen mehr. Das Ungewisse belastet mich so, immer diese Angst, dass die Nachricht kommt, dass er jetzt tot ist. Erst letztens hatte ich deshalb eine schreckliche Panikattacke. Ich hatte schon mehrere Tage hintereinander schlecht und wenig geschlafen, dann fuhr ich in der Früh zur Arbeit und plötzlich gingen mir viele schlimme Dinge durch den Kopf, wegen der mir dann einige Tränen kamen und starkes Herzklopfen. Ich ringte oft nach Luft und atmete schwer, auf dem Weg ins Labor musste ich mich zusammenreißen, dass ich nicht weiter weine, aber dort angekommen, konnte ich es nicht mehr zurückhalten und es ging los. Zum Glück musste ich nur weinen, beim letzten Nervenzusammenbruch in meiner Arbeit, der aber wegen der Arbeit und meiner damaligen so „netten“ Chefin war, wollte ich das Labor zerstören und war kurz davor komplett durchzudrehen. Zum Glück haben sich so schlimme Szenen bis jetzt nur in meinem Kopf abgespielt. In diesem Moment wollte ich aber einfach nur weinen und mal drüber reden, wie scheiße alles ist. Alles kam hoch, Schritt für Schritt meine ganze Vergangenheit: Papa Unfall, Mama Depressionen, Mama Selbstmordgedanken, Mama Selbstmordversuche, Mama und Oma Streitereien, Mama Existenzängste, Papas Familie, die gegen meine Mama kämpften und somit auch gegen uns, Papa geistig behindert, ich Probleme mit Alkohol, ich ungewollt in Beziehung Sex, ich benutzt von Freund, ich vergewaltigt mit Stock, Mama Vorwürfe, ich selbst Vorwürfe, ritzen, lieben Freund verletzt, andere verletzt, ich außer Kontrolle, Mama noch traurig, noch depressiv, Mama krank, Mama Schmerzen, Mama gegen Egon, Egon aggressiv......
Was gibt es nur für eine Lösung, wenn du mitansehen musst, wenn jemand leidet, den du liebst und du nichts tun kannst. Meine Mama ist unglücklich, hat tiefen inneren Schmerz, dadurch auch schon körperliche Beschwerden. Mein Papa hatte nach dem Unfall so sehr gelitten und wir konnten nichts tun. Mein Opa hat körperliche Schmerzen und liegt im Sterben, es ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit. Jeden Tag besuche ich ihn und schau, wie es ihm geht. Er ist voller Selbstmitleid und kann nicht verstehen, dass gerade ihm das passiert.
Mein Opa liegt jetzt definitiv im Sterben und es ist schrecklich. Es ist schlimm mitansehen zu müssen, wie jemand Schmerzen hat und nicht mehr lange zu leben hat. Vor ein paar Wochen hat man nicht gewusst, ob es noch Wochen oder Monate sind, vor ein paar Tagen wusste man nicht, ob es noch Wochen oder Tage sind, jetzt weiß man nicht, ob es noch Tage oder Stunden dauert. Wegen seines Darmverschlusses, der operativ nicht mehr zu behandeln war und wegen der Metastasen, muss er nun künstlich ernährt werden. Die Schmerzen dürften sich wenigstens in Grenzen halten, da er mit Schmerzmitteln zugepumpt wird. Es ist jetzt doch sehr schnell gegangen, da er erst vor einem halben Jahr die Diagnose Krebs bekam. Meine Oma ist jeden Tag stundenlang bei ihm im Krankenhaus und meine Mama bemüht sich nun auch, ihn so oft es geht zu besuchen. Sie möchte die Streitereien mit ihm hinter sich lassen und sich nun mit ihm versöhnen.
Sie sagen, dass er es zwar weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat, aber es verdrängt. Dank den Schmerzmitteln kennt er sich überhaupt nicht mehr aus und glaubt in vier Wochen noch eine Chemotherapie zu bekommen, obwohl die Ärzte gesagt haben, dass sie die jetzt auch schon eingestellt haben, weil er dadurch nur noch mehr Schmerzen hätte. Es ist traurig, ihn so zu sehen und zu wissen, dass es vielleicht das letzte Mal ist. Erst vor einer Woche hat er gemeint, dass er sich wünscht, noch so lange wie möglich zu leben, um noch viel Zeit mit uns verbringen zu können. Er hatte aber auch schon viele Momente, wo er gesagt hat, dass das für ihn kein Leben mehr ist und er sein Leben gelebt hat. Wir wünschten ihm alle auf der einen Seite die Erlösung und auf der anderen Seite, dass er noch lange unter uns weilt. Jetzt wünschen wir ihm nur noch, dass er in Frieden einschläft, auch wenn es schwer ist.
Ich werde nie vergessen, wie er mir mal spontan ein dickes Bussi auf die Wange gegeben hat, als er von hinten bei mir vorbeikam. Er sagte, er ist so glücklich, dass er uns hat und liebt uns über alles. Ich war richtig verlegen, lachte und sagte, dass ich gar nicht gewohnt bin, weil sonst gebe ich ihm immer ein Bussi.
Wir alle weinen um ihn und können es nicht fassen, dass wir ihn bald verlieren werden. Einmal als ich wegen ihm weinen musste, hat mich mein Freund angeschrien und gemeint, ich soll mich endlich zusammenreißen und mich wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Er kann überhaupt nicht damit umgehen und ist leider nicht immer eine Unterstützung für mich. Er hat schon so Phasen, wo er mich dann einfach in den Arm nimmt, was sehr schön ist, aber wenn ihm das zu lange dauert oder zu viel wird, wird er wieder aggressiv. Ich habe ihn einmal gefragt, ob er schon mal einen geliebten Menschen auf diese Weise verloren hat und dabei zusehen musste. Er verneinte, keine Ahnung, ob er es auch verstand. Es fällt mir immer schwerer mit ihm über etwas zu sprechen, da er sehr leicht aggressiv wird und da ich gerade auch etwas sensibel bin, vermeide ich lieber jeden Kontakt, um nicht zu streiten. Denn ich bin immer die einzige, die für unsere Beziehung kämpft, sein Ziel in so einem Moment ist es unsere Beziehung zu zerstören. Er ist schnell genervt und gibt mir dann für alles die Schuld. Nur wegen mir ist er jetzt grantig und aggressiv, worauf ich dann sage, er solle mir bitte nicht soviel Macht geben, denn wer die Schuld hat, hat die Macht. Bevor ich also etwas falsches sage, sage ich lieber nichts mehr. Er beschwert sich dann, dass wir nichts mehr miteinander unternehmen und ich antworte dann, dass es längst an der Zeit ist, dass mal etwas von ihm kommt. Warum soll ich jemanden nachrennen, der mich bei jedem falschen Wort fertig macht?! Sein Glück ist, dass ich mich mehr unter Kontrolle habe als er und ich die gespannte Situation meistens schnell beruhigen kann. Wenn er jedoch körperlich brutal wird, fällt es mir schwerer. Wenn er mein Handgelenk verdreht, mich fest hält, im Pool untertaucht, mich wegstößt oder aggressiv gegen ein Körperteil drückt, muss ich meistens weinen. Leider macht ihn das noch aggressiver und er schreit mich an, was ich für ein Problem habe, was ja eigentlich offensichtlich sein sollte. Wenn ich dann sage, dass er mein Problem ist, rastet er komplett aus und fragt, ob er dann gleich verschwinden soll.
Nach einer bestimmten Zeit hat er es bis jetzt aber immer noch eingesehen und im Nachhinein verstanden. Es hat ihm dann doch leid getan und er hat sich entschuldigt und mich dafür bewundert, wie stark ich bin. Manchmal denk ich mir, dass ich vielleicht doch noch masochistisch veranlagt bin, obwohl ich mich nicht mehr selbst verletzte. Aber den Psychoterror, den ich mir jedes Mal von ihm und auch teilweise noch von meiner Mama gefallen lassen muss, ist nicht leicht zu verkraften. Ich habe es nicht verdient, kann aber durch harte Arbeit schon gut damit umgehen und verfalle nicht mehr so lang in Selbstmitleid. Immer wieder werde ich als emotionaler Mistkübel verwendet und kann es nicht fassen, wie mir Menschen, so weh tun können, die mich angeblich so sehr lieben. Wie schaffe ich das? Ich nehme es meistens nicht mehr persönlich. Bei beiden ist es ihre Vergangenheit, die sie so sehr plagt und die sie noch oft bei mir auslassen. Die Wut wird da losgelassen, wo jemand für einen da ist. Ich bin für beide da und lass es über mich ergehen, um ihnen zu helfen. Ich verliere viel Energie dadurch, kann mich aber wieder aufbauen, um ihnen wieder und wieder zu helfen, solange bis beide endlich glücklich sind. Warum ist es mir das wert? Weil ich beide liebe und mir das Beste für sie wünsche. Ich habe viel Liebe zu geben und bemühe mich, mich nicht komplett aussaugen zu lassen. Irgendwann werde ich dafür belohnt und bekomme das schönste Geschenk, was es gibt: Eine glückliche und zufriedene Familie! Es ist meine Berufung, anderen zu helfen und bei den Menschen, die ich liebe, fällt es mir nicht schwer. Wenn ich es geschafft habe, mein Leben in den Griff zu bekommen, kann es jeder schaffen. Ich möchte zeigen, wie ich es geschafft habe und ein gutes Vorbild sein. Mit Gewalt werden keine Probleme gelöst, sondern mit Liebe und Verständnis. Kommuniziere und befreie dich!
Opa ist wirklich qualvoll gestorben und es war für uns alle schlimm, das mitansehen zu müssen. Er verbrachte seine letzten Tage bei uns im Haus. Oma versorgte ihn und kümmerte sich um ihn. Das war wohl der härteste Job, aber Oma hat es auf sich genommen, weil er sich so sehr gewünscht hat, daheim zu sterben. Jeden Tag, auch nach der Arbeit, sah ich zu ihm und jeden Tag bereitete ich mich auf die Meldung vor, dass er tot ist. Ein Tag bevor er starb, betete ich und wünschte ihm und uns, vor allem Oma die Erlösung. Er sah zum Schluss schon so schlimm aus, dass ich ihn gar nicht mehr ansehen wollte. Er konnte auch nicht mehr aufstehen, geschweige denn sprechen. Kurz bevor es dann zu Ende ging, er konnte es selbst bis zum Schluss nicht glauben, kam nochmal sein Bruder zu Besuch und teilte uns Opas letzten Willen mit. Opa wollte es uns eigentlich selbst sagen und uns etwas geben, doch er unterschätzte seine Krankheit und wartete zu lange, solange, dass er es selbst nicht mehr konnte.
Früher haben wir immer gesagt, bei uns wird es nie Erbstreitereien geben, wir halten zusammen und werden gemeinsam für alle eine gerechte Lösung finden. Das Problem ist nun, dass jeder Gerechtigkeit anders interpretiert, was für den einen gerecht ist, ist wiederum für den anderen nicht nachvollziehbar...
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